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Überschallflüge sollen jetzt leise und umweltfreundlich werden

Die neuen Über(schall)flieger

Das „Corona-Jahr“ 2020 war für die Luftfahrt ein turbulentes: Passagierflugzeuge wurden zu „Preighters“ umgebaut, während Reiselustige mit Fernweh „Flüge nach nirgendwo“ buchen konnten. Doch scheinbar unbeirrt von Reisebeschränkungen und unvorhersehbarem Passagier- und Frachtaufkommen feilten einige ambitionierte Unternehmen eifrig weiter an neuen Innovationen. Ein Bereich, der dabei im vergangenen Jahr besondere Aufmerksamkeit erhielt, ist das Thema Überschallflug. Diese Technologie, die Mitte des vergangenen Jahrhunderts ihr Debüt feierte, wurde unlängst wieder aufgegriffen und verfeinert: Sie soll nun noch schneller, umweltfreundlicher und für eine ausgewählte Zielgruppe internationaler Reisender attraktiv gemacht werden.

Tupolew und Concorde: Erste Einsätze im Zivilflug

Wie so viele Innovationen – von GPS-Tracking bis hin zu Staubsaugerrobotern – hat auch der Überschallflug seinen Ursprung im militärischen Bereich. Am 14. Oktober 1947 durchbrach das US-amerikanische Raketenflugzeug Bell X-1 erstmals mit einem bemannten Flug die Schallmauer und erreichte in etwa 13.100 m Flughöhe eine Geschwindigkeit von 1.125 km/h (Mach 1,06). Knappe zwanzig Jahre später brachte das sowjetische Konstruktionsbüro Tupolew mit der Tu-144 das erste kommerzielle Überschallflugzeug auf den Markt. Die Tu-144 vollzog ihren Jungfernflug am 31. Dezember 1968, dicht gefolgt von der britisch-französischen Concorde, die am 2. März 1969 zum ersten Mal erfolgreich abhob. Obwohl die sowjetische Variante ihren Erstflug zwei Monate früher über die Bühne brachte und mit einer Reisegeschwindigkeit von 2.430 km/h (Mach 2,20) schneller als die Concorde war, die „nur“ 2.179 km/h (Mach 2,02) erreichte, war Letztere wesentlich länger und aktiver im Einsatz. Während die Tu-144 nur ein halbes Jahr im Linienbetrieb war und nach zwei Abstürzen aus dem Rennen genommen wurde, absolvierte die legendäre Concorde bis zum Jahr 2003 etwa 50.000 Flüge mit Überschallgeschwindigkeit und beförderte dabei über 2,5 Millionen Passagiere. Sie galt als der Inbegriff des schnellen und mondänen Reisens. Bis auf den tragischen Absturz am 25. Juli 2000 in Paris gab es keine Unfälle, doch 2003 wurde der Betrieb aufgrund mangelndes Passagieraufkommens und Unwirtschaftlichkeit wegen des hohen Treibstoffverbrauchs endgültig eingestellt. Danach wurde es einige Jahre etwas ruhiger rund um das Thema kommerzieller Überschallflüge, was wohl auch dem hohen Kerosinverbrauch sowie dem Lärmbelästigungsfaktor des Schallknalls zu schulden ist.

„Baby Boom“ inmitten des Corona-Chaos

Im Oktober 2020 rückte der zivile Überschallflug erneut in den öffentlichen Fokus, als Boom Supersonic, ein Start-up aus Denver, Colorado, mit der Vorstellung seines Prototyps „XB-1“ die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zog. Bei diesem Modell, das auch liebevoll „Baby Boom“ genannt wird und Platz für genau einen Piloten bietet, handelt es sich um eine kleine Version (Maßstab 1:3) des geplanten Serienmodells Overture. Die Overture soll eine Geschwindigkeit von Mach 2,2 erreichen und bis zu 75 Passagiere auf einer Reichweite von 8.300 Kilometern befördern können. Damit wäre sie etwas schneller als die Concorde, was sie zum schnellsten Verkehrsflugzeug der Welt machen würde. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Fluglinie Japan Airlines bereits 20 Stück vorbestellt, die Virgin Group zehn. Obwohl die Overture vorerst nur als kommerzielles Passagierflugzeug zum Einsatz kommen soll, besteht laut Unternehmensgründer Blake Scholl auch Interesse an einer Weiterentwicklung für Fracht- und Militärtransporte. Auch im Transportbereich wäre das Flugzeug somit die mit Abstand schnellste Möglichkeit, Frachttransporte in die Luft zu bringen.

Das Vorspiel zur Overture

Die ersten Testflüge des XB-1 fanden 2021 in der Mojave-Wüste in Kalifornien statt um zu testen ob Design und Technologie halten, was sie versprechen. Ein ausschlaggebender Faktor dafür, für den Erfolg der Overture, ist das Triebwerk. Zu diesem Zweck hat sich Boom Supersonic mit Rolls Royce zusammengetan um gemeinsam an der Entwicklung eines innovativen Antriebssystems zu arbeiten.

Inzwischen hat Boom einige technische Details angepasst und das Design des Flugzeugs leicht verändert. Mit einer vorgeschlagenen Geschwindigkeit von Mach 1,7 wird es schlussendlich etwas „langsamer“ ausfallen als geplant. Das Flugzeug soll 2029 eingeführt werden und 65 bis 88 Passagiere über eine Distanz von 7.870 Kilometern befördern können. Am Piedmont Triad International Airport in Greensboro, North Carolina, wird eine 400.000 Quadratfuß große Produktionsstätte gebaut  und erste Testflüge sollen 2026 folgen. Apropos North Carolina: der US-Bundesstaat ist auch die Heimat des ersten Fluges der Luftfahrtgeschichte.

Der jüngste Erfolg von Boom bei der Entwicklung der „Overture“ hat sich ausgezahlt: Im Juni 2022 gab United Airlines bekannt, dass sie einen Vertrag über den Kauf von 15 Flugzeugen mit einer Option auf den Kauf von 35 weiteren unterzeichnet haben. Im August 2022 folgte American Airlines und vereinbarte den Kauf von 20 Flugzeugen mit einer Option auf weitere 40 Flugzeuge.

Das "Overture"-Projekt wirkt wie eine Concorde 2.0.

Aerion: Mit Bio-Sprit betrieben und sanft zu den Ohren

Ein weiteres Unternehmen aus den USA, das ehrgeizige Pläne für den zivilen Überschallflug verfolgt, ist die Aerion Corporation. Der Flugzeughersteller mit Firmensitz in Reno, Nevada, will mit seiner AS2 nicht nur die Schallgeschwindigkeit überschreiten, sondern dies obendrein auch noch CO2-neutral schaffen. Das geplante Modell soll bis 2024 flugfähig sein und im nächsten Jahrzehnt als Geschäftsreiseflugzeug zum Einsatz kommen. Ausgestattet mit einem Triebwerk von General Electric soll eine Geschwindigkeit von Mach 1,4 und eine Reichweite von bis zu 9.260 km erreicht werden. Um CO2-neutral fliegen zu können, will die Aerion Corporation den synthetischen paraffinischen Kerosintreibstoff (SPK) ihres Partners Carbon Engineering einsetzen. Die Ambitionen von Aerion gehen sogar noch weiter: Auch das Problem des Schallknalls hat sich der Flugzeughersteller zu lösen vorgenommen, und zwar mit Hilfe des Prinzips „Mach-Cut-off“. Doch wie entsteht der Überschallknall eigentlich?

Physik-Exkurs: Wie kommt es zum Überschallknall?

Das Prinzip des Überschallknalls ist simpel: Ab ca. 1.100 km/h erreicht ein Flugzeug jene Geschwindigkeit, mit der sich Schallwellen in der Luft fortbewegen. Da die vom Flugzeug selbst erzeugten Geräusche nun nicht mehr an dem ebenso schnellen Flugzeug in alle Richtungen vorbeifließen können, stauen sie sich vor der Maschine an und erzeugen eine „Mauer aus Schall“, die eigentlich ein Hochdruckgebiet darstellt. Zunächst ist diese Stoßwelle scheibenförmig, wodurch der optische „Wolkenscheibeneffekt“ spektakulär zustande kommt. Überschreitet das Flugzeug jedoch Mach 1, dann überholt es die Stoßwelle, die sich nun zu einem „Mach‘schen Kegel“ formt. An dessen Spitze komprimiert sich der Schall zu einem extrem lauten Knall: dem Überschallknall.

Derzeit verboten: Überschallflüge über dem Festland

Zurück zu Aerion und dem „Mach-Cut-off“, dessen physikalische Grundlagen übrigens auch seit Jahren von der NASA erforscht werden. Der Grundsatz dahinter: Wenn sich die Maschine nur knapp über der Schallgeschwindigkeit und in ausreichender Höhe über dem Boden bewegt, dann gibt es zwar auch einen Knall, dieser wird jedoch nicht bis zum Boden gehört. Wenn dieses Prinzip erfolgreich umgesetzt werden könnte, würde dies auch Überschallflüge über dem Festland ermöglichen, die derzeit aufgrund des Schallknalls untersagt sind. Dafür wäre allerdings eine genaue Kenntnis von Parametern wie Temperatur, Windverhältnissen und dem jeweiligen Umgebungsdruck notwendig, was ein komplexes Sensorsystem an der Maschine voraussetzen würde.

Die AS2 gilt als "geräuscharm und umweltfreundlich"

Auch die NASA forscht an leisen Alternativen

Im Dezember 2020 verlautbarte auch die NASA, dass die Pläne für ihre bei Lockheed Martin beauftragte X-59 QueSST (für „Quiet Supersonic Transport“) nun konkrete Formen annehmen. Es handelt sich dabei um ein Versuchsflugzeug, das auch bei einer Überschallgeschwindigkeit von 1.510 km/h bzw. Mach 1,42 nur 75 Dezibel erreichen soll, was in etwa dem Verkehrslärm auf einer gut befahrenen Straße entspricht. Nachdem das Modell im Dezember 2019 die Freigabe zur Endmontage erhielt, soll 2022 der Erstflug dieses leisen Überschallflugzeugs stattfinden. Im Jahr 2024 plant die Raumfahrtbehörde, die X-59 über ausgewählten Gemeinden fliegen zu lassen und danach durch Umfragen die öffentliche Wahrnehmung der Lärmbelästigung zu evaluieren. Die Daten aus diesen Tests sollen an Verordnungsgeber in den USA sowie weltweit weitergegeben werden, um so möglicherweise den Weg für zukünftige Überschallflüge über Land zu ebnen.

Zeit ist Geld: Attraktive Option für Geschäftsreisende

Sowohl Boom als auch Aerion sehen die Zielgruppe ihrer Überschallflugzeuge in naher Zukunft vor allem bei Geschäftsreisenden, die höhere Kosten nicht scheuen, sofern dadurch Reisezeit gespart werden kann. Boom-Gründer Blake Scholl kann sich derzeit 500 mögliche Routen für diese Zielgruppe vorstellen. Beispielsweise könnte die Overture die Dauer eines Fluges von London nach New York von sieben Stunden auf drei Stunden und 15 Minuten verkürzen, den Weg von San Francisco nach Tokyo könnte sie in fünfeinhalb statt elf Stunden zurücklegen, und ein Flug von Los Angeles nach Sydney könnte künftig nur noch knappe sieben anstatt 15 Stunden dauern. Auch, wenn bei den derzeitigen Forschungsprojekten der Personenverkehr im Vordergrund steht, liegt eine Anwendung auch für höchst zeitkritische Frachtsendungen möglicherweise nicht allzu fern. Während an der Treibstoff- und Kosteneffizienz sicherlich noch ein paar Jahre gefeilt werden muss, beobachten wir weiterhin mit Staunen und Spannung die rasante Entwicklung dieser Design- und Technikwunder.